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Gegen den Strom – Strandtour von Sanremo bis Bordighera
Wieder mal Alltag. Während der Stau vor dem Gotthard Tunnel tagsüber immer länger zu werden scheint, mache ich im Shop noch ein paar Kunden glücklich – sie mich.
16.00 Uhr KLACK, ich schliesse das knarzende Tor zur Piratenhöhle, fahre relativ entspannt aber sportlich via San Bernadino in Richtung Süden und erreiche mein Ziel noch vor Mitternacht.
Der folgende Tag beginnt jungfräulich, schmeisst aber schon verdammt früh eine ordentliche Portion Sonne durchs Fenster. Während meine lahme, schwabbelige Körperhülle offensichtlich bereits schon in der Ferienwohnung verweilt, mag mein müder Geist irgendwie noch nicht ganz so schnell nachziehen…
Mein Smartphone zeigt mir üppige «30 Grad» und das bereits schon am frühen Morgen. Ich begebe mich in die Vertikale, meine Freizeituhr tickt, mit purer Vorfreude auf den Tag fahre ich innert Sekunden von 0 auf 100. Das Frühstück muss mangels Utensilien leider ausfallen, immerhin finde ich noch eine Dosis Kaffee in der Schublade.
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«Erfrischen und den Tag erst einmal völlig planlos, mit einer Runde Schwimmen im türkisblauen Meer beginnen!» Das klingt nach einer tollen Idee Andi!
Zweifel an diesem Vorhaben beschleichen mich erst, als ich diese, mit Badetüchern bewaffneten Massen gen Strand marschieren sehe. Im geübten Miteinander, machen sie sich gegeneinander auf die Jagd nach diesen wehrlosen Liegestühlen, welche dort am Strand in Reih und Glied um zähes Sitzfleisch buhlen.
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Während der gute Hahn vor mir – nennen wir ihn mal «Rüdiger» – schweissperlengebadet schon mal sein Brut-Revier mit Badetüchern markiert, stellt sich seine Henne – wir nennen sie «Regula» – brav in die Warteschlange der örtlichen Strandmafia. Ihre breiten Flügel in Gestalt von Ellbogen sollen dabei Drängler abschrecken. Und tatsächlich, der Schrecken steht den vielen Dränglern «vor ihr» womöglich heute noch ins Gesicht geschrieben.
Geschafft! Und 50 Euro haben die beiden ganz sicher auch schon mal dümmer eingesetzt, als für die Tagesmiete von zwei tiefergelegten Polypropylen-Liegestühlen mit einem verwitterten, siebähnlichen Sonnenschirm, in der 5ten Reihe, hinter den Flodders… Hut ab! Vor euch liegt nun möglicherweise ein ruhiger, angenehmer, unfassbar erlebnisreicher, total relaxter Tag, mit kulinarischen Ergüssen und Wohlfühlorgasmen am erfrischenden Meer. Und diesen Tag, habt ihr euch nach der Schufterei auch wirklich redlich verdient! Das ist Bodenhaltung Deluxe!
«Runterkommen und die Seele baumeln lassen…»
… exakt «so und nicht anders» stand es schliesslich auch im Internet. Und, es ist im Grunde ja alles eine reine Einstellungssache. Man muss eben nur irgendwie die Einstellung erlangen, dass die sichtbar überfordernde Hitze, das Gelaber hunderter Menschen, das Gekreische von Kids und das lauwarme Wasser – welches tatsächlich immer wieder mal aus dem Fleischhaufen herausglitzert «paradiesisch» ist und das jenes was hier und da so herumbaumelt, wirklich die Seele ist.
Spätestens nach dem 4ten Mojito mit naturidentischem Minz- und Limettenaroma, dem «original italienischen» Fast Food mit Cheddar-Käserand und einer zünftigen Pinkelpause im Meer, wird sich diese Einstellung manifestieren, ganz klar! MUSS…
Denn der Tag aller Tage, er muss schliesslich in vollen Zügen & Stränden genossen werden! Und Glück, Genuss & Zufriedenheit – so bekommen wir es ja täglich von Marcs Algorithmen eingetrichtert – steigt schliesslich unter anderem auch, mit der Quantität des Konsums. Ironie Off!
Sorry, ich bin raus!
Ich stürze mich in die tosenden Fluten. Ich tauche panisch auf, denn für Sekundenbruchteile dachte ich, es handelt sich bei dem Zeugs im Gesicht um einen verendeten Aal oder eine quietschfidele Slipeinlage… äusserlich cool und gefasst, streife mir diese – quer über mein Gesicht klebende, miefende Alge, von der Haut.
«Also Abkühlung und Genuss ist echt was anderes»! Aber wenn diese, nach Auszeit gierenden Menschenmassen und der Mangel an Platz nicht wären, dann würde ich es hier schon noch ein paar Minuten länger aushalten.
Die Strände in den Städten sind in der Hauptsaison gerne mal rammelvoll. Die Preise stolz, der Erlebnis- & Entspannungswert geradezu ernüchternd und die Qualität ist, wie beim den meisten Massenverarbeitungsbetrieben «ausbaufähig». Das liegt aber halt auch einfach in der Natur der Sache… wer sich mit Natur auskennt, der weiss das eigentlich.
Und so wird leider, unter anderem auch diese Gegend heimgesucht von einer ganz seltsamen Gattung von Frusturlaubern, welche sich total entnervt, überfordert, gestresst über jede denkbare Kleinigkeit echauffieren, sich gegenseitig angackern, -anzicken, -anpullern, -anschmollen und sich dann noch darüber wundern, dass ihnen der Gastgeber den berühmten, mitgebuchten italienischen Charme nicht entgegen bringt. Nicht dass ihr jetzt denkt, ich habe euch nicht lieb aber zuhause wäre es doch so sehr viel schöner für euch… meint ihr nicht auch?
Es ist Hauptsaison, Hotspot, lebendige Stadt und vielleicht ist es ihnen ja entgangen… aber quasi ganz Italien, Frankreich, Deutschland & die Schweiz befindet sich zeitgleich in den Ferien. Wer jetzt noch gut kombinieren kann, der wäre ganz klar im Vorteil.
Wie im Alltag, so lohnt es sich auch im Urlaub in der Hauptsaison – mal raus aus der (alles andere als komfortablen) Komfortzone zu gehen und etwas kreativ, antizyklisch vorzugehen. Das geht übrigens auch supergut mit Kids und sogar auch mit Partner.
In beiden Richtungen entlang der Küste, befinden sich nämlich unzählige Strände. Es klingt vielleicht absolut verrückt aber wieso nicht mal selbst auf Entdeckungsreise gehen? Das geht zu Fuss, per Bike, per Zug, per Bus, per Auto, per Roller & Rollator. Das geht also auch tatsächlich ganz ohne Ausrede.
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Wir haben schon einige Urlaubsgenossen kennengelernt, die haben in zwei Wochen nicht annähernd so viel gesehen, nicht annähernd so viel erlebt, sich nicht annähernd so gut entspannt – wie andere Freigeister & Lebenskünstler «an einem einzigen Tag». Aber dafür waren sie ganz hervorragende, vorbildliche Herdentiere und für quasi «jeden» Touristennepp zu haben… wie schön dass es für alles einen Markt zu geben scheint.
Es ist immer wieder ein Phänomen. Je mehr Massen in eine Richtung rennen, desto mehr Massen folgen ihnen. Nach dem Motto, «es muss was ganz besonderes sein, wenn alle das machen.» Hmmm… also ich denke wirklich nicht, das ich mittlerweile eine Sozialphobie habe und als Einzelgänger oder gar Aussteiger fühle ich mich bei weitem auch nicht aber diese dumpfen Massenbewegungen sind mir mittlerweile echt ein absolutes Rätsel. Was treibt diese Menschen denn bloss an?
Falls es ihnen wirklich Spass macht, na dann GO… wieso nicht? Aber wenn ich mir Rüdiger, Regula und das gestresste Kollektiv anschaue, wenn ich mir deren Klagelied und Laune reinziehe, dann frage ich mich schon «WHY»?!
Aber wurscht, ein jeder ist ja seines eigenen Glückes Schmied und mein einziger Job heute ist es, mir meinen eigenen Alltag so zu gestallten, wie ich es für angenehm empfinde. Und so gehe ich, wie so oft «völlig planlos» in mich. Setze mich an mein verspätetes Frühstück ins Café und stelle (noch) nüchtern fest, dass mir trotz Badelaune, dieses Meer an Leuten heute/hier irgendwie to-much ist.
Noch bevor irgendein vermittelbarer Plan reifen kann, schnappe ich mir Badehose, Schwimmflügel, Sonnencreme… stecke sie in den mega praktischen, wasserdichten Kajuna Dryboy mit Polar-Touch Tarpaulin (HIER AKTION) und fahre mit meinem Kickboard gen Westen, in Richtung Ospidaletti.
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Ich liebe mein Kickboard. Man kommt gut voran, ist aber gleichzeitig langsam genug um seine Umwelt in seiner vollen Pracht wahrzunehmen. Zudem ist man damit völlig frei. Man könnte es z.B. jederzeit zum Handgepäck falten – so in einen Zug einsteigen oder beim schicken Diner, zwischen den Bauchfalten unter der Abendgarderobe verstecken. Verdammt cooles Ding, passt zu mir!
Mein Weg führt mich, begleitet von chilligem Sound, vorbei an zahlreichen Beach-Clubs. Ich kann den Lockrufen des hiessigen Moijtos – einer sehr zutraulichen, wohlduftenden Gattung – dank meiner ausgeprägten inneren Stärke widerstehen.
Nach dem letzten Schlürfer am Trinkhalm geht es weiter… Obwohl das Sackgassenschild mich vorwarnen möchte, entscheide ich mich für den Weg entlang des Ufers. Stolz prahlen & prollen sie, diese prachtvollen Villen entlang des Meeres.
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Wunderschöne Plätze, richtig geil und geschmackvoll herausgeputzt. Woow… ja, so lässt es sich leben! Was für die Jünger der Neidkultur wohl eher ein Alptraum sein muss, ist für mich pure Mitfreude und eine regelrechte Inspiration… ich bin zufrieden aber man darf ja zum Glück träumen und sich hin und wieder verändern. Weil irgendwann, wenn ich gross bin (lange vor der Rente), möchte ich mir mit meiner Heidi auch so ein süsses Paradies mit Meersicht stricken… die Pläne dafür liegen bereits schon in der Schublade und werden immer mal wieder an die gemeine Realität angepasst. Läuft…
Finito! Ende, Pericolo, morsi di cane… wieso nur endet dieser blöde Weg jetzt einfach? Ich hasse es umzukehren und entdecke einen steilen Fussweg zwischen zwei Anwesen, hinauf zur Strasse. Ich frage mich, als ich über zwei Zäune klettere zwar schon, ob dieser Weg wirklich ein Weg ist oder ob er sich mir nur als «einen Solchen» präsentieren wollte. Egal, ich überlege einfach manchmal zu viel…
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Die Strasse fällt in Ospidaletti langsam stetig ab und mündet in eine Meeresbucht. Vor mir, lauter schöne Strände und… oh welch Wunder, absolut nicht überlaufen. Die Hitze treibt mich direkt ins Wasser. Ich schwimme eine Runde und genehmige mir anschliessend an einer chilligen Bar ein Glas weisses Träubchen und einen Salat mit fritierten Meeresbewohnern.
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Hier würde ich es aushalten, wenn… ja wenn ich nicht plötzlich dieses schöne Bordighera im Auge hätte. Und so rolle ich weiter entlang der Strasse und lasse mich abermals auf eine Sackgasse ein. Trichtergleich verjüngt sich die Strasse immer mehr zu einem Pfad und führt mich zu einen einsamen Beach mit Bar. Leider (oder zum Glück) heute erst ab 16.00 geöffnet. Toll, also diesen Platz merke ich mir…
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Die anschliessende Strecke entlang der vielbefahrenen Strasse, langweilt mich ein wenig. Ich konzentriere mich, wie früher – als ich mit meinen Erziehungsbemühten wandern «musste», auf diese Mikrowelt unter mir oder besser gesagt «unter meinen Rädern». Schattenslalom, Boardsteinsprünge, Käfercarving… vor lauter Käferausweichen hätte ich dann fast diese unschuldige Nonna vor mir übersehen.
Je näher ich Bordighera komme, desto schöner präsentiert sich mir die Küste. Es geht vorbei an Hotels und grossen Villen.
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Auf einmal zweigt ein kleiner, total unscheinbarer Weg in Himmelsrichtung «Meer» ab… fast so, als würde diesen, jemand vor mir verstecken wollen. Zu spät, denn ein hartnäckiger Störenfried befindet sich bereits auf dem Weg in euer Geheimnis…
Der Weg führt mich unter der Bahnlinie hindurch, durch ein schäbiges, kanalisationsähnliches Rohr. Zu früh gefreut, Andi! Vielleicht ist es deren Ziel, neugierige Touristen wie mich in Kloaken zu locken, um ihnen ihre Flügel zu stutzen… ganz klar, es ist das üble, hinterhältige Werk der Strandmafia.
Vor mir – es dunkelt, es kaltet, es modert, die Schritte hallen, das Echo vergisst Silben. Nach der Kurve sehe ich zumindest etwas Licht. Ich ahne gar schlimmes. Fäkalienverseuchtes Einöd, Restmüllendlager, Tierkadaververwesungsgehöf oder eine Kentucky-Schreit-Chicken Filiale…
Schritt für Schritt nähere ich mich dem vermeintlichen «Fiasko des Tages». Step by Step taste ich mich nach vorne, mit dieser brachialen Gewissheit, dass meine kuschelige Welt «hinter mir» ihre Unschuld an diese dornige Realität «vor mir» zu verlieren droht.
Ich nehme mir diesen ganzen Mut zur Enttäuschung zusammen. Was sich mir hinter dieser «Kurve der Wahrheit» verbirgt ist mit meinem simplen schwäbischen Wortschatz kaum zu beschreiben. Und während ich nach Worten ringe, während mir meine Augen die Luft zum atmen nehmen… richte ich kaltblütig, intuitiv den Abzug meines Smartphones auf dieses Landschaftsopfer vor mir. Ich drücke ab, ich treffe, die Gegenwart fällt vor mir auf die Knie und breitet mir – wohlwissend meines Sieges, seine Arme aus.
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Ich, absolut kein Freund der Theatralik renne gen Ausgang, direkt in die Aura dieses wunderschönen Strandes. Türkisblaues Meer, feiner Sand, Osteria, nicht überlaufen, bequemer Liegestuhl im Schatten eines Sonnenschirms, gutes Essen, leckere Drinks, salziges Wasser, Sonne… kurzum – eine Infrastruktur, so wie ich sie für «äusserst akzeptabel» empfinde.
Damit der Strand ein Geheimnis bleibt, verhüllt sich Bild und Wort in gar süsses Schweigen…
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Da liege ich nun, konserviere mich, entspanne, relaxe und tippe euch, mir, dir, wem auch immer… diese bescheidenen Zeilen.
Und mir wird wieder mal so richtig bewusst, wie schön ich es habe, seitdem ich… [vorsicht Tiefe] …auf meine innere Stimme höre und mich immer mehr nach ihr ausrichte. Diese «so oft überhörte oder übergangene» Stimme, sie braucht kein Wissen und keinen menschengemachten Glauben um mir eine Richtung vorzugeben – nur der urwüchsige Glaube ans Leben und tiefes Vertrauen. Diese Stimme grenzt mich nicht ein, sie hält mir viele Wege offen, sie lässt mich Fehler machen, mich lernen und klagt nicht an. Ihr zu folgen macht mich auch in Alltag und Job sehr viel belastbarer, offener und kreativer. Es gibt so viel mehr Alternativen als ich vermutet habe. Ich fahre nicht «grundsätzlich immer» aber zumindest «ganz oft» antizyklisch. Oft auch völlig unbewusst. Und was soll ich sagen… es funktioniert! Sehr viel besser, erfolgreicher und effizienter, als wenn ich mich dem Diktat und der Dynamik der Massen anschliesse.
Die wenigen Leser mögen mir diese kleine, schwere Einlage verzeihen aber das Leben ist halt nunmal tiefer als der Schwimmbereich meines aktuellen Traumstrandes. Und an diesem halte ich es heute lange aus, sehr lange…
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Als ich am Abend, müde vom Fussmarsch ins quirlige Sanremo zurückkehre, atme ich erst mal den Trubel der Massen ein. Ich liebe diese Stadt. Ich liebe dieses lebhafte Leben hier, ich liebe es aber auch mal rauszukommen – wie der Barkeeper vorhin am Strand meinte – der Mix macht den perfekten Cocktail!
Ich nehme mir meine letzten Kräfte zusammen und mache mich auf in Richtung Altstadt. Hoch oben, dort wo man nur mit etwas fleiss hinaufkommt, da gibt es nämlich so einen geheimen Geheimtipp: «Mamas kleine Spaghetteria». Einfach, rustikal, regional, nur 5 Gerichte aber dafür skandalös-grandios!
Unterwegs sehe ich Regula und Rüdiger an einer dieser riesigen Touri-Plattenbau-Restaurants nahe des Hafens. Sie stochern auf ihren wehrlosen Schnitzeln herum, verziehen dabei ihr Gesicht. Sie gackern- , zicken-, pullern-, schmollen- sich gegenseitig an und wundern sich dann noch darüber, dass ihnen der Gastgeber den berühmten, mitgebuchten italienischen Charme nicht entgegen bringt. «Ach ihr lieben, seid doch einfach zufrieden oder wenn nicht, dann ändert etwas…».
Zum Glück gibt es aber auch ganz viele Leute, die ihre Zeit «wie auch immer» geniessen können und positive Energie versprühen! Und genau auf diejenigen trinke ich jetzt einen hiessigen «Rosses di Dolceacqua».
«PROST!»
Und bei jedem festen Biss in Mamas, grandiose, selbergemachte Pasta bin ich irgendwie doch auch verdammt happy darüber, dass nicht jede innere Touristenstimme antizyklisch-gleich tickt…
In voller Entspannung
Euer Andimacht