Ceriana, Bajardo & die Jagd auf die Gegenwart

Na Andi, wie wär’s? Einfach mal wieder zwei bis drei Tage Auszeit, Tapetenwechsel, ganz allein mal raus aus dem Alltag, runterkommen, in mich gehen. Ein Luxus, für jeden der in einem durchgetakteten, verplanten und gestressten Alltag steckt, so wie z.B. ich ihn jährlich im Sommer erlebe. Mittlerweile gewähre und gönne ich mir diese Schaffenspausen etwas regelmässiger, weil ich weiss, dass es mir schlichtweg «guttut». 

Hey und siehe da, kaum war die Idee aufgepoppt, sass ich schon am Abend nach Ladenschluss im Auto gen geliebten Süden…

Bereits während der Fahrt reifte in mir diese Idee, das Bergland um Sanremo herum mal näher zu erforschen. Immer wieder wandere ich zufällig mit meinem Finger in den Maps um die beiden Bergdörfer Ceriana und Bajardo, welche dort offenbar seit dem tiefen Mittelalter ihr Unwesen treiben.

Morgens halb neun in Sanremo. Nach dem Ausschlafen und Frühstück erwachen so langsam auch meine Adventure-Geister. Meine anfängliche Euphorie um eine tollkühne Besteigung der besagten Bergregion, wird jedoch von der heranschleichenden Vernunft etwas gedämpft.

Zu weit, zu heiss, zu spät, zu schlecht trainiert, zu fett, zu faul, um so einen Gewaltmarsch zu wagen. Und während Spiesser & Spinner in mir diskutieren, lande ich mit einem lässigen Kompromiss auf der Piste. «Na, wie wäre es, wenn ich das Auto irgendwo vor Ceriana parke, um mich dann «Per Pedes» über Ceriana hinauf nach Bajardo zu machen?!»

Andi, welch unfassbar grossartige, weil durchaus (untypisch) realistisch anmutende Idee! Ich fackle nicht lange, schreite gen Auto, jegliche Restzweifel werden im Keim der Hetzerei erstickt.

Je höher ich komme, desto fassbarer wird mir dieses zerklüftete Sanremo. Vorbei an der malerischen Altstadt von Poggio schraube ich mich immer weiter hinauf, bis das blaue Meer langsam hinter den Hügeln verschwindet, um immer mal wieder kess durchzublinken.

Eng wird’s…

Easy, die Strasse ist ja breit genug für zwei Autos…

Italienische Autos…

Cinquecentos mit eingeklappten Spiegeln…

Als die ersten Häuser siedlungsgleich oben am Horizont auftauchen, parke ich am Wegesrand. Vor mir zweigt ein verlockender Fusspfad nach Ceriana ab. Das ist mein Weg, den muss ich einfach nehmen!

Der Weg geht langsam in einen immer kleiner werdenden Pfad über. Oha, ich hätte vielleicht doch zu Fuss auf der Strasse bleiben sollen, denn der vor mir liegende Pfad wurde offensichtlich seit den Ursprüngen des Mittelalters nicht mehr benutzt. Überall unwirtliche Dornen, Gestrüpp, grosse Steinbrocken, Spinnennetze (womöglich von übergriffigen Urspinnen) und beinahe kein Durchkommen mehr. Ich nehme mir einen Stock zur Waffe, kämpfe mich durch das unberührte Dickicht, steil bergauf, steil bergab, im Wechselspiel. Ich zweige an Gabelungen in Richtung Gefühl ab. Ich bin mir unsicher, ob ich mich überhaupt noch auf einem offiziellen Pfad bewege oder ob es sich hierbei gar nur um einen Trampelpfad von flüchtenden, panischen Tieren aus dem unteren Ende der Nahrungskette handelt.

Es ist sauheiss und irgendwie stelle ich mir langsam die Frage nach dem Sinn und Zweck dieser, doch sehr chaotischen Übung. Laufen ist ja schön und gut, aber DAS ist jetzt wieder mal echt «typisch Andi». Er könnte eine majestätische, einladende Strasse haben, aber er nahm den unpassierbaren Urwald.

«Runterkommen und die Seele baumeln lassen…»

Mit blutigen Armen, verstochener Haut und durchlöchertem Shirt schreite ich weiter unaufhaltsam gen… also gen was eigentlich? Und es will einfach kein Ende nehmen. Auch wenn mein Hirn so langsam die etwas unkomfortable Gesamtsituation in Frage stellt, da ist und bleibt etwas in mir, was mich diesen Irrsinn trotzdem weiter tun lässt!

Auf einmal Baaaaahm… der Urwaldvorhang fällt, eine neue Welt tut sich mir auf. Ich stehe total zerkratzt, zerstochen, angefressen und ausgespuckt an einem Plateau mit einer geheimnisvollen Kapelle.

Da unter mir liegt sie, gar wunderschön eingebettet in die grüne Bergwelt. Oh du schöne Ceriana. Welch atemberaubender Anblick!

Ich halte kurz inne, atme tief durch und lasse diese Berg-Oase auf mich wirken. Ja, der Irrsinn ist jetzt wieder mal um eine Antwort reicher.

Zielstrebig mache ich mich vom Acker. Der kleine Pfad mündet in einen Weg voller grosser, uralter, stumpfer Pflastersteine. Mächtige Stadtmauern bauschen sich vor mir auf und gewähren mir durch einen schmalen Torbogen Einlass.

Beäugt von zahlreichen (ich hoffe) Katzenaugen, trete ich voller Ehrfurcht ein, in dieses stattliche Wohnzimmer aus alten Gebäuden, Türmen, Gängen und Plätzen. Wooow, was für ein toller Ort.

Ich schreite durch ein Labyrinth von Gängen und Häuserschluchten und lande auf einmal mitten im Rampenlicht der Sonne, auf einem wunderschön gepflasterten Platz.

Spätestens beim Anblick der dort befindlichen Taverne ist es um mich dann gänzlich geschehen. Es fliesst, so wie es sich für einen Hobby-Römer gehört, ordentlich Wein, Wein, Wein, Antipasti und Wein.

Saugeil hier! Aber wenn ich jetzt noch ein Glas Wein mehr trinke, dann werde ich mein Ziel Bajardo nur noch mit viel Glück irgendwann im Torkelschritt erreichen.

Ich raffe mich auf, durchquere das sagenhafte Ceriana und münde in einem Gang, welcher sich ausgesetzt an einem festungsähnlichen Bauwerk hinunter schlängelt. Ich verharre immer wieder beim Anblick dieser Idylle, welche sich mir durch die traumhaft schönen Steinbögen bietet.

Von unten gesehen, frisst sich die Stadt regelrecht «stolz» gen Himmel, als wolle sie mir voller Macht zeigen, wie klein und unbedeutend ich doch gefälligst zu sein habe.

Der Weg setzt sich immer weiter ab von der Stadt, versinkt im tiefen Grün. Ich drehe mich um. Hinter mir breitet Ceriana nochmals ihre mächtigen Arme aus. Ich kann mich ihrem märchenhaften Bann nur mit ganz viel Kraft entreissen.

Der dunkle Wald öffnet nochmals kurz seine Pforten und präsentiert eine Kirche mit bunter Fassade, Türme und alte restaurierte Steingebäude.

Mein Weg leitet mich auf eine mittelalterliche Steinbrücke über den Fluss Armea, welcher sich zu einem einladenden, kleinen Badesee staut. In Anbetracht der vor mir liegenden Strecke, lasse ich diesen jedoch eiskalt links liegen.

Für den weiteren Weg ins hoch gelegene Bajardo, entscheide ich mich für die langweilige, offizielle Streckenführung entlang der Strasse. Und das ist wohl auch gut so, denn der Weg ist lang, viel länger als ich es in meiner Euphorie vermutet habe. Lang, bewaldet und irgendwie verdammt eintönig. Ich gehe, ich tauche ab, ich bin… ein Schritt, ein Herzschlag, ein Augenblick. Ich bin in Takt, womöglich intakter denn je… und auch wenn ich manchmal nicht ganz richtig ticke, es ist gut so. Vielleicht sogar auch gerade «deswegen»? Ich meine, dieser Vogel, welcher über mir kreist, möchte mir das mit seinem Kreischlaut bestätigen.

Es ist ganz seltsam, denn immer, wenn ich mich auf (m)einen Weg mache, wenn ich mir meine Zeit selbst gestalte, dann fühle ich mich dabei seit einiger Zeit so bewusst, so friedlich. Dann gibt es keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur dieses eine reine Jetzt! Schritt für Schritt in die Gegenwart. Ich fühle dann plötzlich ganz deutlich, wofür ich bin, wer ich bin. «ICH BIN JETZT»! Saugutes Gefühl, wieso habe ich bloss diese Droge nicht schon viel früher entdeckt?

Ich bin heute wieder mal ziemlich tiefgründig unterwegs, aber es ist so wie es ist… es muss am weisen Alter, am Wein oder an der Natur liegen. An meiner Nähe zu menschengemachten Lehren der Esoterik und des Glaubens kann es jedenfalls ganz sicher nicht liegen.

Alles gut so wie es ist. Ich bin zufrieden! Nur meine freche Heidi, die vermisse ich an Tagen wie diesen doch sehr. Ich habe für sie zwar ganz viele Bilder geschossen aber was sind schon Bilder und Text…  

Ich fange an die Schritte zu zählen. Unzählige Steps, Kurven und Serpentinen später, bin ich am Pass angekommen und was ich von dort aus erblicke, ist mit blossen Worten kaum zu beschreiben.

BAJARDO

Vor mir, stolz in etwas über 900 m Höhe auf einem Hügel thronend, liegt es, das Bergdorf Bajardo. Keine Mauern, kein Wall, kein Schutz nur Willkommen und eine grosse Strasse, eine Aorta die sich wenig später in viele kleine Adern aufteilt. Die mittlere, ich fühle ihr pochen, sie führt mich an einen Platz mit vielen einladenden Tavernen. Doch die Zeit ist noch nicht ganz reif zum Einkehren. Zuerst möchte mein Erlebnisdurst gestillt werden… und DAS wird er.

Die Gebäude werden immer uriger. Wunderschön renovierte Steinhäuser und rustikale Gassen führen mich an einen besonders mystischen Ort. Vor mir erhebt sich eine stolze Kathedrale ohne Dach. Es ist die mächtige Ruine von der Kirche San Nicoloo, deren Kirchendach 1877 bei einem Erdbeben einstürzte und damals über 200 Menschen unter sich begrub.

Staunend trete ich ein. Dieser Ort ist an Mystik und Atmosphäre kaum zu überbieten. Ein Platz der eigentlich viel zu schade dazu ist, nur Ruine zu sein. Das dachten sich wohl auch die Dorfverwalter und nutzen ihn, Gott verzeih es ihnen, regelmässig als Open Air Kino. Neugierig gehe ich durch das Steintor rechts hindurch. Es öffnet sich mir eine grandiose Terrasse mit einem noch tolleren Blick auf die französischen Seealpen.

Ich setze mich auf die Mauer, atme tief ein, fühle mich rundum wohl hier. Ich gehe weiter, durch diese vielen engen Gassen und wie es der Pfadfinder-Zufall so will, lande ich am süffigen Ausgangspunkt meiner Ortsbegehung. Exakt jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um Kehle und Gaumen zu belohnen. An der Osteria Ra Culeta verweile ich, bis mir die Weinvögel zwitschern dass es Zeit ist, langsam meine Rückreise anzutreten.

Ich gehe und gehe, versinke wieder in meine Gedanken aber keine Angst… ich erspare euch die Details dazu. Während es langsam dunkelt und ich mich meinem Auto nähere, wird mir eines aber immer klarer. Ceriana, Bajardo sind wunderschöne Ziele aber diese Ziele waren den ganzen Tag nie ein echter Bestandteil meines Antriebs. Ziel, das war doch immer nur der Weg, das Bewusstsein in meinem hier und jetzt! Und dafür lebe ich, dafür mache ich, dafür pirsche ich auch durch Urwälder. Um es nun endgültig auf den Punkt zu bringen, meine heutige Tour war schlichtweg…

…die Jagd auf die Gegenwart!

Und ich bin mehr und mehr dabei, mir auch meinen Alltag so zu gestalten, dass diese Jagd, dieses Abenteuer den Raum bekommt, den es verdient. Ich setze den Fokus aufs Leben und ganz vieles, was ich tue und mache, jede Energie, jeder Gewinn fliesst in eine Bank, deren Zins und Zinseszins auch in Rezessionszeiten einfach atemberaubend ist. 

So, fertig mit multiplen philosophischen Orgasmen!

Anmerkung der Redation: Auch diese Reise hatte ihren Sinn. Denn wir haben uns in den Ort verliebt. Unfassbar, denn zwischenzeitlich haben wir in Bajardo unser Schlösslein «Castel’lo» erworben und möchten dies zu einem schönen Bed & Breakfast umbauen (siehe: Castel’lo Website)

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